Zu diesem Buch
Der Wandel der Geschichtswissenschaft
besteht vorwiegend in der Betrachtung des vergangenen Geschehens aus den zeitgebunden je anderen Perspektiven und seiner Bewertung aus anderen Normen und
Vorstellungen heraus. Das gewährleistet den Gegenwartsbezug der Geschichte und der Geschichtswissenschaft, die nach den Quellen und nach methodischen
Grundsätzen ein jeweils zeitgemäßes Bild der Vergangenheit – das Geschichtsbild – herstellt.
Das Mittelalterbild
als sich zeitgemäß wandelnde Deutung jener vergangenen Epoche verlangt auch die Reflexion der heutigen Interessen daran, also eine Selbstanalyse der
Mediävistik.
Oft mit Verzögerung haben Methodenwandel und Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft Eingang in die Mediävistik gefunden. Neue Themen und
Herangehensweisen haben die traditionellen Ansätze aber nicht verdrängt, sondern sind neben sie getreten, so dass die heutige Mittelalterforschung von einer bislang
unbekannten Offenheit für Fragestellungen und Anregungen gekennzeichnet ist. Diese Vielfalt drängt aber auch die Frage nach dem Standort und den Perspektiven
der heutigen Mediävistik auf.
Die Modernität der Mediävistik
wird an ihrer Fähigkeit gemessen werden, zeitgemäße Themen aufzugreifen und sich konstruktiv an aktuellen Diskussionen zu beteiligen. Sie wird diesem
Anspruch in dem Maße gerecht werden, wie es ihr gelingt, aktuelle Fragen an den Besonderheiten und der Andersartigkeit des Mittelalters zu reflektieren. Indem sie das
"Mittelalterliche" am Mittelalter herausarbeitet und die spezifische Ausformung heutiger Fragestellungen in jenem Zeitalter aufweist, leistet sie ihren Beitrag zu gegenwärtigen
Diskursen und erfüllt ihre bewusstseinsbildende Funktion. Hierzu gehört nicht zuletzt, gegen die in der Öffentlichkeit verbreitete Klischee- und Mythenbildung
über das Mittelalter anzugehen.
Perspektiven
Die Bewältigung der skizzierten Aufgabe der Mediävistik steckt noch in den Anfängen. Sie voranzubringen ist das Ziel dieses Bandes, der an exemplarischen
Gegenständen Stand und Perspektiven heutiger Mediävistik – auch im internationalen Vergleich – ausleuchtet. Die Beiträge stellen Leistungen,
aber auch inhaltliche wie methodische Defizite der Forschung vor. Sie wollen noch keine fertigen Antworten bieten, sondern zur Diskussion dieses wichtigen Themas anregen.
Die Beiträge
Hans-Werner Goetz
Einführung: Die Gegenwart des Mittelalters und die Aktualität der Mittelalterforschung
Jürgen Sarnowsky
Kreuzzüge und Ritterorden in der neueren Forschung
Klaus Schreiner
Frommsein in kirchlichen und lebensweltlichen Kontexten. Fragen, Themen und Tendenzen der frömmigkeitsgeschichtlichen Forschung in der neueren Mediävistik
Peter Segl
Mediävistische Häresieforschung
Anne-Marie Helvétius
Les saints et l'histoire. L'apport de l'hagiologie à la médiévistique d'aujourd'hui
Bernd-Ulrich Hergemöller
"Randgruppen" im späten Mittelalter. Konstruktion – Dekonstruktion – Rekonstruktion
Gabriela Signori
Geschichte/n einer Straße. Gedanken zur lebenszyklischen Dynamik und schichtenspezifischen Pluralität städtischer Haushalts- und Familienformen
Folker Reichert
Reisen und Kulturbegegnung als Gegenstand der modernen Mediävistik
Philippe Buc
Political Ritual: Medieval and Modern Interpretations
Michael Richter
Die "Entdeckung" der Oralität der mittelalterlichen Gesellschaft durch die neuere Mediävistik
Marco Mostert
Das Studium alter Handschriften als Beitrag zu einer modernen Kulturwissenschaft
Ludolf Kuchenbuch
Sind mediävistische Quellen mittelalterliche Texte? Zur Verzeitlichung fachlicher Selbstverständlichkeiten