Zu diesem Buch
Angesichts der immensen Schwierigkeiten, mit denen Rumänien im vierten Jahr nach dem Umsturz von 1989 konfrontiert ist, zeigt sich immer deutlicher, dass die Probleme
des Landes nicht nur dem Ceausescu-Regime anzulasten sind. Je mehr der Schatten des Diktators weicht, desto nachdrücklicher treten Schwierigkeiten hervor, die das
Land bereits vor Ceausescus Machtantritt 1965 prägten. Einige davon haben sich in letzter Zeit verstärkt, wie z. B. ein übersteigerter Nationalismus, der den ca.
3 Millionen Roma, 2 Millionen Ungarn, über 100 000 Deutschen und anderen, kleineren Minoritäten im Lande keine Minderheitenrechte zugestehen will, sowie die
inzwischen massiv betriebene Rehabilitierung Antonescus, der vom faschistischen Diktator zum patriotischen Retter der Nation avanciert. Eine Demokratisierung der
rumänischen Gesellschaft ist offensichtlich nicht schnell und einfach zu erreichen; haben doch auch die freien Wahlen in Rumänien nur bewiesen, dass die alte
Nomenklatura auch damit zur Herrschaft gelangen kann.
Die hier vorliegenden Beiträge, die im November 1991 auf dem Symposium "Rumänien im Europa der Neunziger Jahre" an der Freien Universität Berlin zur
Diskussion gestellt wurden, sollen das von Dracula, Ceausescu und verwahrlosten Kinderheimen geprägte Rumänienbild korrigieren, ohne es zu beschönigen.
Dabei ist es vor allem den älteren und tieferliegenden Problemen des Landes, die in diesem Band zur Sprache kommen, zuzuschreiben, dass die anfängliche
Euphorie und der vorsichtige Optimismus inzwischen der Ernüchterung gewichen sind. Rumänien, das aufgrund seiner Außenseiterrolle innerhalb des Ostblocks
seit 1968 gehätschelte Lieblingskind des Westens, wurde eben nicht um seiner "liberalen Haltung" oder gar um seiner selbst willen umworben. Mit dem Wegfall der Ost-
West-Spannungen ist auch das Interesse an Rumänien verloren gegangen. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte wird den Rumänen damit ihre Rolle als Objekt der
Großmachtpolitik vor Augen geführt.
Die Beiträge von Lothar Maier, Holm Sundhaussen und Sorin Alexandrescu verdeutlichen, dass historisch bedingte Benachteiligungen und
schwerwiegende, niemals gelöste politische, ökonomische, gesellschaftliche und mentale Probleme eine lange, unheilvolle Tradition in Rumänien haben, und
dass die von vielen rumänischen Intellektuellen heute favorisierte Anknüpfung an die Zwischenkriegszeit wohl mehr Gefahren als Chancen in sich birgt. Paul
Cornea weist in seinem Vortrag darauf hin, dass die rumänische Demokratie bis 1938 zwar der Form, nicht jedoch dem Inhalt nach dem westlichen Modell entsprach. In
deutlichen Worten zeigt er auf, wohin der Weg aus den mit Hoffnungslosigkeit gepaarten miserablen Lebensumständen führen kann: in die Diktatur. Einer solchen
"Lösung" wird auch der Westen nicht unbeteiligt entgegen sehen können.
Diesen größeren Zusammenhang, in dem die Geschichte und die gegenwärtige Lage Rumäniens zu sehen ist, zeigen die Beiträge von
Gábor Hunya, Mathias Bernath und Georg Focke auf. Sie machen deutlich, dass sich in Rumänien nicht nur die bekannten Strukturprobleme Ost-
und Südosteuropas widerspiegeln, sondern dass eben ganz spezielle wirtschaftliche, politische und mentale Schwierigkeiten existier(t)en, die das Land zu einem Sonder-
bzw. Extremfall mach(t)en. Auch hier hat die neueste Entwicklung den Pessimisten zugearbeitet. Die von Sorin Alexandrescu im Hinblick auf die Wahlen vom September
1992 geäußerte Hoffnung, Rumänien könne in schnellen Schritten der Demokratie zueilen, hat sich nicht erfüllt. Gabor Hunya, dessen
Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung Rumäniens schon Ende 1991 nicht sehr optimistisch waren, hat Anfang 1993 feststellen müssen, dass die
angestrebte Stabilisierung der rumänischen Wirtschaft auch 1992 nicht erreicht worden ist.
Auf die spezifischen Eigenarten Rumäniens gehen vor allem Keith Hitchins, Gabriel Liiceanu, Klaus-Henning Schroeder und Ana Blandiana ein.
Hitchins beschäftigt sich mit der Frage nach der Bedeutung und dem Wesen der Orthodoxie und zeigt am Beispiel des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft die
Lage Rumäniens am Schnittpunkt von Okzident und Orient auf. Dabei weist er auf ein historisches und aktuelles Problem hin, das im Westen meist übersehen wird:
Für die rumänische Elite gilt es noch nicht als ausgemacht, dass die kulturelle Erneuerung nur allein durch einen schnellen Anschluss an Europa möglich ist.
Manche Intellektuelle sehen die kulturellen Wurzeln des Rumänentums im Osten, in der Orthodoxie, und machen den Westen für geistige Fehlentwicklung und
Entfremdung verantwortlich. Mit diesem Problemkreis befasst sich auch Gabriel Liiceanu, der sich in einem autobiographisch gefärbten Vortrag mit dem Erbe des
"geistigen Nationaltrainers" Constantin Noica befasst, dessen exklusiver Kulturbegriff und dessen Definition der "rumänischen Seele" ihm nicht nur Anerkennung, sondern
auch den Vorwurf eines übertriebenen nationalkulturellen Behauptungsdranges und weltvergessener Leidenschaftlichkeit einbrachten. Der Umgang mit Noicas Devise, die
Gerhardt Csejka einmal kurz und treffend auf die Formel brachte: "Stolz sollt ihr sein und fern der Politik", ist auch heute noch eines, wenn nicht das zentrale Problem der
rumänischen Elite. Dem Land fehlen nicht nur demokratisch gesinnte Bürger, die den Aufbau einer funktionierenden Demokratie vornehmen könnten, selbst die
schmale Schicht der Berufsintellektuellen kann sich nur schwer mit dem Geschäft der Politik anfreunden.
Heftige Reaktionen rief der Vortrag Klaus-Henning Schroeders hervor, der aufzeigt, wie die neuere rumänische Linguistik politische Zielsetzungen auf ihrem Gebiet
umsetzte. Sein pointiert negativ gezeichnetes Bild von der rumänischen Sprachwissenschaft stieß im Publikum auf brüske Ablehnung oder deutliche Zustimmung
– unberührt ließ dieser Vortrag wohl niemanden. Ana Blandiana beschrieb zum Schluss des Kongresses in sehr persönlichen, eindrucksvollen
Worten die Situation in ihrer Heimat, die Hoffnungslosigkeit nach der langen Phase der Isolation.
Mit dem Symposium haben die Herausgeberinnen auf die aktuellen Probleme und die spezifischen Schwierigkeiten Rumäniens hinweisen wollen, um mehr
Verständnis für dieses Land und seine Bewohner zu wecken. Referent(inn)en und Diskussionsteilnehmer(innen) machten überzeugend klar, dass
Rumänien nicht allein aus eigener Kraft die immensen Probleme bewältigen wird, dass aber der schier hoffnungslosen Lage mit Hilfe des Westens, durch
ausreichende Kredite, durch eine schnelle politische, humanitäre und kulturelle Anbindung an Europa, wirkungsvoll entgegengetreten werden könnte.
Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien zeigt bislang, dass es sich auch dann in Westeuropa ruhig leben lässt, "während dahinten auf dem Balkan die Völker wild
aufeinanderschlagen". Wenn der Band zu der Erkenntnis beiträgt, dass sich die "Festung Europa" auf Dauer nicht mit geschlossenen Augen halten lassen wird, und sich die
westlichen Wohlstandsgesellschaften letztendlich auch im eigenen Interesse mit den Perspektiven der Menschen in den Ländern Ost- und Südosteuropas befassen
müssen, hat er seinen Zweck erfüllt.
Die Beiträge
Erster Teil: Grundlinien der politischen und ökonomischen Entwicklung
Lothar Maier
Rumänien und die europäischen Mächte (1859-1944)
Holm Sundhaussen
Die "Modernisierung" der Balkanländer in vorsozialistischer Zeit: Ein Mißverständnis und seine Folgen
Gabor Hunya
Recession and Transformation in Romania 1990-1991
Sorin Alexandrescu
Rumania's Belated Take Off. An Essay on Political Transition
Zweiter Teil: Rumänischer Nationalismus
Mathias Bernath
Werden und Gemachtwerden von Nation. Die Rumänen im Blickpunkt vergleichender Nationalismusforschung
Klaus-Henning Schroeder
Sprachtheorie und Nationalismus in Rumänien
Georg Focke
Vom Kommunismus zum Nationalismus – Zum Sonderfall Rumänien
Keith Hitchins
Vom Kommunismus zum Nationalismus – Zum Sonderfall Rumänien
Dritter Teil: Zum Demokratieverständnis in Rumänien
Paul Cornea
La démocratie roumaine dans l'ère post-totalitaire. Legs du passé et inconnues de l'avenir
Gabriel Liiceanu
Was bedeutet es, in der Nachkriegszeit im Osten Europäer zu sein?
Ana Blandiana
Les racines du mal roumain: de l'angoisse prophylactique à l'indulgence occulte
Zusammenfassung und Analyse der Podiumsdiskussion von Samstag, 30. November 1991
Ilina Gregori
Das Europa der neunziger Jahre. Ein neues Rumänienbild?